Predigt zum Psalm 139 (in Auszügen)
Liebe Gemeinde!
Für mich ist es das schönste Gebet der Bibel: der Psalm 139! Es begleitet mich seit vielen Jahren. In schönen Augenblicken leiht es mir Worte, um das zu beschreiben, was ich sehe und wahrnehme: wenn ich jetzt Sie und Euch sehe, dazu die offene Tür in unserer Kirche und den knallblauen Himmel draußen, darunter das unbeschreibliche schöne Meer und die Klippen… dann spüre ich in meiner Seele: „Wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ (Drehen Sie sich doch jetzt mal um, dann wissen Sie, was ich meine.)
In traurigen Zeiten trösteten mich die Worte dieses Psalms:
„Führe ich gen Himmel,
so bist du da,
bette ich mich bei den Toten,
siehe so bist du auch da.
Nähme ich Flügel der Morgenröte
und bliebe am äußerten Meer,
so würde auch dort deine Hand mich führen
und deine Rechte mich halten.“
Gott ist da. Einen gottfernen Ort gibt es nicht. Nicht im fernen Westen und auch nicht auf der Rückseite des Ostens. In allen Dimensionen jedes Raumes und der Zeit. Gott hat mit dem echten Leben zu tun. Mit den äußersten Enden und mit allen, was dazwischen liegt.
Wenn ich an Zeiten denke, in denen ich es mir selbst nicht leicht gemacht habe und mich fragte: Ist das alles so richtig, was Du tust, Thekla? Und wie Du es tust? Oder war das Dein Fehler, dass es so gelaufen ist, wie es gelaufen ist?
Oder wenn ich an Margot Kässmann denke, nachdem sie mit ihrem Auto von der Polizei angehalten worden war und diese festgestellt hatte, dass sie etwas zu viel Rotwein getrunken hatte - damals hatte sich viel Spott über sie ergossen, zumal sie ja auch vorher schon Anlass für Gesprächsstoff gegeben hatte. Ein Satz aus ihrer Rücktrittserklärung als Bischöfin und EKD-Vorsitzenden ist mir hängen geblieben. Sie zitierte einen Satz des Liederdichters Arno Pötzsch, der ihr Halt und Orientierung gab: „DU kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Wow! Was für ein Satz!
In den Worten des Psalms 139 finde ich diese Gewissheit wieder: Es gibt wirklich nichts, was mich von Gott trennen kann. Gott ist da, wenn es Nacht um mich wird und ich mich von allen verlassen fühle. Und wenn ich das dann spüre, dass Gott da ist, dann kann vielleicht selbst die Finsternis zum Licht werden.
Die Psalmen in der Bibel sind Dichtung. Sie sind Poesie. Eine besondere Art von Text, wie z.B. ein Lied, ein Gedicht oder Gebet. Poesie erzeugt mit Worten Bilder und Gefühle und will uns den Blick für das Leben öffnen oder weiten. Mit den Worten des Psalms 139 beschreibt jemand eine tiefe Nähe, die er oder sie zu Gott empfindet. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass der Beter des Psalms 139 viele Bilder aus der Natur und aus dem Leben aufnimmt, um deutlich zu machen, dass wir umgeben sind von Gott.
„Von allen Seiten umgibst du mich…
und hältst deine Hand über mir.“
Und wenn er fragt
„Wohin soll ich gehen vor deinem Geist,
und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?“.
Und gibt dann gleichzeitig eine Antwort: Gott, ich kann nirgendwohin vor dir fliehen. Weil du überall bist.
Für manchen von uns kann dieser Gedanke und diese Beschreibung von Gottes Nähe auch bedrückend sein und sogar als Zumutung erlebt werden. Weil er oder sie so viel Nähe Gottes gar nicht will. Ich denke z.B. an Jugendliche, die sich von ihren Eltern lösen. Sie sind ja auf der Suche nach sich selbst und haben dabei allerlei Geheimnisse. Ich vermute, dass das heute nicht anders ist als zu der Zeit als ich Jugendliche war. Oft sind sie sich selbst noch ein großes Geheimnis. Für sie kann es schrecklich sein, zu denken: „Gott folgt mir überall hin und kennt all meine geheimen Gedanken.“ Darüber hat der Psychotherapeut Tilmann Moser ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel „Gottesvergiftung“. Darin beschreibt der Autor, wie schlimm es für ihn war, dass diese Bibelverse für Erziehungszwecke missbraucht wurden: Gott wie ein allwissender Übervater; wie eine allgegenwärtige Übermutter, die die totale Kontrolle über ihn hatte. Das erfüllte ihn mit Scham und mit Zorn auf Gott. Eine Art Über-Ich, so nennen es Psychologen. Es mahnt einen ständig besser zu werden. Denn es weiß ja, wie es innerlich um einen steht. Ich halte es für ein großes Missverständnis, Gott für die eigenen Erziehungszwecke von Kindern einzusetzen.
Das Besondere am Psalm 139 ist für mich, dass Beides anklingt und Raum bekommt: Das Gefühl, bei Gott wunderbar geborgen zu sein. Und der Wunsch, vor Gott fliehen zu wollen, wenn wir uns von Gott bedrängt fühlen und eingeengt, so dass wir uns nicht frei entfalten können. Auch wir Erwachsenen kennen doch die Frage: „Will ich das wirklich, dass Gott alles von mir weiß, dass er meine Gedanken von ferne versteht? Sollte nicht manches besser verborgen bleiben?“ Ich jedenfalls kenne diese Fragen von mir. Als wir in meiner früheren Gemeinde im Frauenkreis über unsere Vorstellungen von Gott und Gottes Nähe sprachen, sagte eine Frau: „Ich finde es immer entlastend, dass Gott sowieso schon alles weiß.“ Und ich stellte fest: Ja, dieser Satz passt zu ihr! Zu ihrer Lebensfreude und ihrer Menschenfreundlichkeit, die sie ausstrahlte. Und sie hat ja Recht: Ein barmherziger Gott macht mich nicht klein. Sondern lässt mich aufatmen.
Damals lernte ich: Beide Gedanken, beide Gefühle haben ihr Recht vor Gott. Denn Gott ist nicht nur unendliche Weisheit. Gott ist auch unendliche Liebe. Und mit jedem Atemzug nehmen wir die Liebe Gottes in uns auf, der das Leben gewollt hat, der das Leben auch heute will.
Spannend finde ich auch, dass in den Versen des Psalms 139 nicht Gott auf den Menschen schaut, sondern der Mensch, der den Psalm 139 betet, schaut auf Gott. „Du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin.“ In einer Art Vision sieht der Beter, wie Gott ihn als Embryo geformt hat und ruft aus: „Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin.“ Dieser Satz ist für mich einer der stärksten Sätze der ganzen Bibel. Ich weiß nicht, wie ein Mensch mehr Selbstvertrauen gewinnen kann als durch die Erfahrung: Ich bin ein Wunder! Denn wenn ich diesen Satz wirklich in meine Seele einziehen lasse, dann weiß ich mich in einer Weise angenommen, wie ich sie mir tiefer nicht vorstellen kann. Dann nehme ich wahr, wie kostbar das Leben ist, das Gott mir geschenkt hat. Und ich lerne dafür zu danken. In meinem Freundes-Kreis sind auch Ärztinnen und Ärzte. Sie alle haben auch nach vielen Jahren in ihrem Beruf nicht aufgehört, über das Wunder des Lebens zu staunen. So staunt auch der Beter dieses Psalms: Es ist ein Wunder, dass es mich gibt. „Ich danke dir, Gott, dass ich wunderbar gemacht bin!“
Ich stimme dem Theologen Jürgen Moltmann zu, wenn er sagt: Gott hat die Welt nicht nur aus dem Nichts geschaffen. Gott hat sie auch ganz aus Liebe geschaffen. Wenn das wirklich stimmt, wenn dieses Wort Liebe wirklich für den Menschen und die ganze außermenschliche Natur gilt, dann verändert sich unser Blick! Auf uns selbst! Auf unsere Mitmenschen! Auf die Natur! Und dann verändert sich auch unsere Haltung und unser Verhältnis zur Natur. Dann wird sie zur Mitkreatur. Dann sehen wir sie nicht als Besitz, über die wir nach Belieben verfügen dürfen, sondern dann gehen wir selbst behutsam, achtsam, liebevoller mit ihr um.
Es macht einen Unterschied, ob wir diesen Satz aus Psalm 139 mit ganzem Herzen mitbeten können: „ICH danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“
Weil Gott uns aus Liebe geschaffen hat, wird Gott uns nicht allein lassen.
Weil Gott die ganze Natur aus Liebe geschaffen hat, wird er die Welt nicht allein lassen. Wir sind in Gottes Hand. Einen schöneren Ort gibt es nicht. Und ich bin davon überzeugt: Wer sich und Gott so sehen kann, spürt: der Psalm 139 vermittelt keine Kontrolle, sondern eine tiefe Geborgenheit. Und diese Geborgenheit kann gar nicht groß genug sein. Deshalb bittet der Psalmbeter am Ende sogar noch um mehr davon:
„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz;
Prüfe mich und erkenne, wie ich`s meine.
Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin
und leite mich auf ewigem Wege.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser Denken und Fühlen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Es gilt das gesprochene Wort
Thekla Röhrs, Pn. i.R.
Pfingstpredigt 2025 zu Apg. 14, 23-27 und Joh. 14,23-27
„Die leisen und die großen Töne – Gottes Geist im Großen und Kleinen“. Carvoeiro, 8. Juni 2025
Liebe Gemeinde,
Weihnachten feiern wir Jesu Geburt mit Bäumen, Lichtern und Geschenken. Ostern die Auferstehung Jesu Christi mit Ostereiern, ausgepusteten Eiern an Zweigen und allerlei Geschenken.
Was feiern wir eigentlich Pfingsten?!?
Die Lesung aus der Apostelgeschichte schildert zu dieser Frage ein spektakuläres Ereignis, bei dem richtig die Post abgeht. Die Jünger Jesu hatten sich nach Jesu Tod zurückgezogen und waren ratlos und verun-sichert, weil sie keinen Anführer mehr hatten, der voranging.
Diese schüchterne Truppe tritt plötzlich öffentlich auf und der Heilige Geist packt sie derart, dass sie feurig und flammend von Jesus predigen. Erstaun-licherweise werden sie von allen anwesenden Menschen in unterschied-lichen Sprachen verstanden. Das erste Pfingsfest!
Das wäre so, wie wenn wir jetzt runter an den Strand von Carvoeiro gingen, um dort unseren Gottesdienst zu feiern. Wir wären vermutlich auch etwas schüchtern und mutlos – und relativ sicher, dass man uns da ziemlich schnell verscheucht, weil die Leute bestimmt lieber in Ruhe am Strand liegen wollen. Und plötzlich würden wir von einer Kraft gepackt und reden in unterschiedlichen Sprachen – und werden von allen verstanden. Von Portugiesen, Engländern, Spaniern, US-Amerikanern, Franzosen und brasilianischen Kellnern usw.
Eine barrierefreie Kommunikation über alle sprachlichen Grenzen hinweg! Ein Wunder menschlicher Verständigung über Herkunft und Nationalität hinaus!
DAS würde sich wie ein Lauffeuer in der Welt verbreiten: Wow, gibt’s doch einen Weltumspannenden Gott ?! Gottes Geist ist wieder da und wirbelte nicht nur vor 2000 Jahren. Endlich mal wieder eine Erfolgsgeschichte für die etwas angeschlagene Kirche! Das wäre so etwas wie der Heilige Geist im Großen. Die großen Töne Gottes.
Die zweite Lesung ist völlig anders (Johannes 14,23-27).
Keine Geschichte, schwer zu greifen. Einzelne große Worte: Frieden. Liebe. Wort halten. Tröster. Lehrer.
Am Ende des Textes hat man fast wieder vergessen, was am Anfang gesagt wurde. Doch die leisen Töne lohnen sich!
Der Text beginnt damit, dass ein Jünger Jesus fragt: „Herr, was bedeutet es, dass Du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt?“.
Der Frage des Jüngers könnten wir uns sofort anschließen: was bedeutet es, dass so viele uns nicht gerade interessiert nach unserem Glauben fragen, wenn wir auf das Thema kommen, sondern eher schnell erzählen, dass sie selbst von Kirche nicht viel halten, ausgetreten sind, aber ihren eigenen Glauben schon haben. Was bedeutet es, dass das Vertrauen in die Kirche etwas ramponiert ist und manche Menschen bei den Themen Gottesdienst, Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit eher abwinken?!
Jesu Antwort auf die Frage des Jüngers:
„Wer mich liebt, der wird mein Wort halten. Und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“.
Hier geht’s um eine Beziehungsgeschichte zwischen Gott, Jesus und uns.
Und diese Beziehungsgeschichte hängt an zwei Achsen: wer mich liebt – wird mein Wort halten. Damit hängen wir am Tropf der Worte Jesu als Ausdruck der Liebe zu ihm. Lesen die biblischen Geschichten, ringen um das Verständnis dieser Geschichten. Setzen uns damit auseinander und kennen deshalb auch den roten Faden der Sympathie Gottes und Jesu: für Ausgegrenzte und hilfsbedürftige Arme, Witwen und Waisen. Kennen ihre Sympathie für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Kennen Jesu Worte in der Bergpredigt, vom Barmherzigen Samariter, der goldenen Regel oder dem höchsten Gebot. Kennen Jesu Kritik an allen Selbstgerechten – kurz: wir wissen, worum es beiden insgesamt geht.
Die leisen Töne in Jesu Aussage sind: wer mich liebt, wird mein Wort halten! Und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. In mir. In uns.
Was für eine Aussage! Und Perspektive!
Das wird hier ohne Bedingung gesagt! Hier wird nicht gesagt: ich muss erst dies und jenes geleistet, alles richtig gemacht und bestimmte Prüfungen bestanden haben. Voraussetzung allein: ihn lieben und sein Wort halten! Ich muss auch nicht alles verstanden haben! Dazu schickt Gott in Jesu Namen eine Begleiterin: den heiligen Geist, der weiblich ist. Unsere Trösterin! Unsere Lehrerin und Erklärerin! Unsere Erinnerung an Jesu Worte!
Und wer soll das glauben?
Dass der unfassbare Gott Ihnen und mir so nahekommt? In uns Wohnung nimmt – aus reinem Interesse an unserem kleinen Leben?
Wir sollen das glauben!
Die Hauptfragen zu Pfingsten sind deshalb:
welche Erfahrungen haben wir persönlich mit den kleinen und großen Tönen Gottes gemacht? So, dass wir selbst das Gefühl hatten: ja, hier wehte der Heilige Geist, weil er wollte! Hier kommunizierte Gott durch seinen Geist barrierefrei mit uns! Hier war dieser unberechenbare und undefinierbare Geist Gottes unter uns – mit mir – da! Weil der Heilige Geist eben nicht nur vor 2000 Jahren wehte, brauste, da war!
Erinnern Sie sich? Gab es diesen Geist in Ihrem Leben als Kraft?
Als Lehrerin. Wegweiserin. Als Ziehen in der Brust, aufleuchten im Herzen. Als Sehnsucht. Als eine Art von Stimme und Ruf.
Kennen Sie das?
Gab es diesen Geist für Sie und Dich als Trösterin?!?
Als Stimme, als Ruck in Dir. Als Flüstern eines leisen Wehens, das Dich beruhigte. Unerklärbar, nicht zu greifen. Und doch wahr für uns selbst.
Und wir richteten uns daran aus und auf! Und sind weitergelaufen.
Mit neuer Kraft und neuem Mut im Gepäck.
Denken Sie einmal über Ihre Erfahrungen mit diesem Geist nach!
Ich erlebte diesen Geist in großen Tönen z.B. auf Kirchentagen, bei Jugend-freizeiten oder in London bei einem Taize-Jahrestreffen, als 6000 Menschen „Laudate Omnes Gentes sangen“. Die leisen Töne erlebte ich z.B. in der Seelsorge oder bei Gottesdiensten.
Wir feiern Pfingsten also die barrierefreie Kommunikation Gottes mit uns!
Das Geschenk unserer Lehrerin, Trösterin, Helferin und Erinnerung.
Danke! Amen
Texte aus dem letzten Gesprächskreis im Zusammenhang mit dem Monatsspruch
Oskar Sturm
Aus Apostelgeschichte 10,28 – „…mir aber hat Gott gezeigt, dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen darf.“
Nur ein kleiner Satz, eine Phrase, die der Pfarrer mir da zuwirft. Natürlich schreib ich da gerne ein paar Gedanken auf. Das geht doch ganz schnell.
Pustekuchen.
Was für ein Satz! Da nähern wir uns doch gleich einem – in meinen Augen – zentralen Punkt des Christseins. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Nicht Herkunft, nicht Aussehen, nicht ethnische Zugehörigkeit, nicht Glaube noch Gebräuche oder andere äußere Merkmale entscheiden über die Liebe Gottes. Keiner wird ausgegrenzt, Gottes Liebe umfasst uns alle.
Und ich als Christ – folge ich diesem großen Wort? Mache ich mir bewusst, dass das der Anspruch an mich selbst ist?
Es ist aber auch sehr schwer, eigentlich fast unmöglich. Ich stehe vor einem Zielkonflikt, vor einem Paradoxon. Die eigene und damit auch die fremde Abgrenzung ist systemimmanent. Jeder von uns gehört – geboren, gekoren, gewillkürt, wie auch immer – irgendwo dazu, möchte zu irgendeiner Gruppe gehören, sucht seine Identitäten in, mit und durch die Anderen. Wir Menschen brauchen das, wir sind so gestrickt. Ohne das werden wir verrückt.
Wir sind Frau oder Mann oder beides oder nichts davon, wir sind Kind, Jugendliche/-er, Erwachsene/-er, Alte/-er, wir haben eine Augenfalte oder keine, wir gehören zu den Großen, den Dünnen, den Tänzern oder Nichtschwimmern … und so fort. In meinem Leben bin ich – sich verändernd – aber doch immer irgendwo dabei. Meine Identität, mein Ich, braucht diese Bestätigungen.
Aber mein Dabeisein impliziert, dass andere nicht dabei sind – sie sind ausgeschlossen. Ich bin drin, die anderen sind draußen. Und das zeige ich (manchmal) auch (z. B. im Fußballstadion). Ich grenze mich ab, betone den Unterschied.
Wie also komme ich als Christ zu Recht mit diesem Anspruch?
Vielleicht muss ich erkennen, dass meine Abgrenzung, mein Dazugehören oder mein Draußenbleiben keinen Wert an sich darstellt. Es ist per se kein Wert, ein Mann zu sein oder jung oder weiß oder deutsch. Das Anderssein zu akzeptieren, zu tolerieren, zu würdigen – ja, wertzuschätzen –, das Verbindende, das ohnehin viel größer als das Trennende ist, zu sehen.
Gott hat Petrus erkennen lassen, dass sich die Menschen nicht aufgrund der verschiedenen Merkmale und Verhaltensweisen einordnen und in Gut und Böse, in richtig und falsch kategorisieren lassen, sondern dass alle Menschen zuerst einmal gleich, alle richtig sind.
Er lehrt mich Inklusion und Toleranz, die ja wunderbare Spielarten der Liebe sind, und fordert mich auf, mein eigenes Verhalten zu reflektieren, ob es vor diesem Hintergrund Bestand haben kann.
Auch Paulus greift das in seinem Brief an die Galater (Galater 3,28) auf, wo er schreibt:
„Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist weder Mann noch Frau, denn ihr seid alle einer in Christus Jesus.“
Das Fremde macht uns manchmal Angst, verunsichert uns. Die beste Medizin ist meiner Meinung nach, das Fremde kennen zu lernen, wertfrei neugierig zu sein. Dann ist es sehr schnell nicht mehr fremd, nicht mehr beängstigend. Dann kann ich mich darauf einlassen, es tolerieren, es verstehen – und vielleicht sogar mögen.
Dann ist mein/-e Gegenüber und sein/ihr Verhalten plötzlich nicht mehr „unheilig“ (in einer anderen Übersetzung der Bibel heißt es „gemein“ oder „unvorschriftsmäßig“) oder „unrein“, denn ich verstehe, in welchem Kontext es entsteht.
Rose-Marie Hoffmann-Riem
3 Minuten Statement DEKA am 1. Juni 2025
Wir haben eben den Monatsspruch Juni 2025 gehört, der lautet:
„Aber Gott hat mir gezeigt, dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen soll“
Ich beginne mit dem Auszug eines Artikels aus der SZ vom 26. Mai, gerichtet an Politiker wie Friedrich Merz und seine europäische Parteienfamilie:
„Man wüsste von ihm und seinen Mitstreitern gerne, wie es sich mit dem christlich-konservativen Menschenbild verträgt, Fremde zu dämonisieren und Zurückweisungen von Menschen auf der Flucht als politischen Triumph zu feiern. Rechtlosigkeit und Herzlosigkeit – beides untergräbt auf Dauer das Wertefundament der europäischen Welt.“
Oder um Margot Friedländer, der am 9. Mai im Alter von 103 Jahren verstorbenen Botschafterin von Toleranz und Menschlichkeit, zu zitieren:
„Bleibt Menschen!“
Ausgerechnet oder gerade sie, deren Familie fünf Jahre lang versuchte, aus Deutschland zu fliehen. Die USA verweigerten die Einreise, ebenso Brasilien und China. Ihre Familie wurde 1943 in Ausschwitz ermordet, sie selbst im Frühjahr 1944 in ihrem Versteck verraten und nach Theresienstadt gebracht. Sie überlebte und emigrierte 1946 in die USA. Etwa 40 Jahre später kehrt sie als 82 jährige Frau nach Deutschland zurück.
Sie hat eine Mission. Auf zahllosen Veranstaltungen sagt und beschwört sie immer wieder Schüler und Schülerinnen, Studenten und Studentinnen, Vertreter/innen der Politik im Land und im Bund:
„Bei allem wie Ihr handelt, denkt, fühlt – bleibt Menschen!“
Sie wusste, was es bedeutet, als Andersgläubige dämonisiert und auf der Flucht vor dem Verderben an den Grenzen zurückgewiesen zu werden.
Wenn ich mich hier umschaue, wage ich die These, dass niemand von uns, die hier in dieser Kirche sind, solche Erfahrungen machen musste.
Haben wir also die Kraft, auch Geflüchteten gegenüber, die anders aussehen, einen anderen Glauben haben, die für sich und ihre Familien um ein menschenwürdiges Leben kämpfen, als fühlender Mensch gegenüber zu treten.
Damit können Sie und ich unseren individuellen Beitrag leisten, dass Rechtlosigkeit und Herzlosigkeit sich nicht im Wertefundament unserer europäischen Welt durchsetzen.
„Mir aber hat Gott gezeigt, dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen darf“.
Predigt über den Monatsspruch für Juni 2025
Liebe Gemeinde,
der Monatsspruch für den Juni hat es in sich!
Ein einziger Satz, der alle möglichen Grenzen zerschneidet: „Mir aber hat Gott gezeigt, dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen darf“.
Dieser Satz gilt über politische, religiöse und weltanschauliche Grenzen hinaus. Diese scheinbare Phrase eine Pfarrers geht in den eigenen Innenraum – und Oskar befragte seinen eigenen Blick und seine Haltung:
Vor Gott sind alle gleich!
„Keinen Menschen darf man unheilig oder unrein nennen.
Mit diesem Gedanken geht Petrus zu Kornelius, einem römischen Hauptmann. Eigentlich steht zwischen beiden eine religiöse Mauer: auf der einen Seite der Jude Petrus, auf der anderen Seite der Heide Kornelius.
Aus der religiösen Sicht von Petrus ist Kornelius ein Fremder und Andersgläubiger, zu dem man eigentlich keinen Kontakt aufnimmt. In einer Erscheinung wird Petrus von einer Stimme klar gemacht: „Was Gott rein geschaffen hat, nenne Du nicht unrein!“. Rumms!
Deshalb trifft Petrus sich mit Kornelius. Als Petrus bei ihm ankommt, fällt Kornelius Petrus vor die Füße – und Petrus sagt den beeindrucken Satz: „Steh auf, ich bin auch nur ein Mensch“. Und sagt dann zu allen Anwesenden: „Ihr wisst, dass es einem jüdischen Mann nicht erlaubt ist, mit einem Fremden umzugehen. Aber Gott hat mir gezeigt, dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen darf“. Dieses Treffen überwindet die damalige religiöse Mauer zwischen Judenchristen und Heiden – nur dadurch konnte das Christentum sich weiter ausbreiten. Dieses Treffen hat eine weltpolitische Dimension!
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Vor zwei Wochen sprachen wir im Gesprächskreis über das Thema „Flüchtlingsproblem – wie gehen wir als Christen damit um?!?“.
Ich war gespannt auf diesen Nachmittag. Und war überrascht, wie einig wir uns waren. Kein Streit brach aus, keine Spannung war im Raum. Wir erzählten einander von unserer Sicht der Dinge:
„Ich verstehe gar nicht, warum Flüchtlinge ein Problem sein sollen“.
„Ich bin ja selbst ein Flüchtling, damals aus der DDR. Viele haben, glaube ich, vergessen, dass sie selbst einen Migrationshintergrund haben“.
Wir erzählten uns unsere Erfahrungen mit Flüchtlingen und Migranten.
Ich habe diesen Erzählraum genossen. Und ich glaube: wir brauchen solche Kommunikations-Räume, in denen wir mit anderen über die Themen unserer Zeit sprechen und dialogisch nach Antworten auf Fragen unserer Zeit suchen.
Mir fiel an diesem Nachmittag ein Beispiel aus meinem Leben ein, das mich danach beschäftigte: meine persönliche Geschichte mit Donatella Colletti, der heutigen Besitzerin einer italienischen Eisdiele in meiner Heimatstadt. Ich kenne sie, seitdem ich das erste Mal bei „Venezia“ Eis gegessen habe, sie ist etwa gleich alt wie ich. Als Jugendlicher bediente sie mich das erste Mal und wir grüßten uns auf der Straße. Dann zog ich wegen meines Studiums weg und kehrte 20 Jahre später in meine Heimatstadt zurück, um dort zu arbeiten. Heiratete, wir bekamen einen Sohn. Unser Sohn mochte als Kind genauso gerne Eis wie ich. Und wenn ich auf dem Wochenmarkt mit ihm einkaufte, lief er mir als Kind regelmäßig weg: von dem Bio-Stand, an dem ich direkt vor der Eisdiele einkaufte, lief er in die Eisdiele, so schnell konnte ich gar nicht gucken. Ich lief ihm dann hinterher, wenn ich mein Gemüse bezahlt hatte. Und entweder stand unser Sohn gerade hinter der Eis Theke und bekam von der Besitzerin ein Eis spendiert – oder Donatella kam mir entgegen, breitete ihre Arme aus und sagte: „Alles gut!“. Unser Sohn ging stolz hinter ihr her und aß zufrieden seine drei Kugeln – sein Gesichtsausdruck sagte „Siehste!“.
Irgendwann redete ich einmal länger mit Donatella und erfuhr ihren Namen. Sie erzählte mir, wie sie in der Schule als Kind in Gifhorn gehänselt worden war. Kinder riefen ihr „Spaghetti-Fresser“ „Dreckige Italiener“ und so hinterher.
Das hatte sie 30 Jahre vorher ziemlich verletzt. Und dann erzählte sie, dass eine Woche vor unserem Gespräch etwas ganz Anderes passiert war. Sie und Ihr Mann hatten ihre Eisdiele nach einem größeren Umbau wieder eröffnet – und zur Wiedereröffnung kamen sehr viele Gifhorner mit Blumen, die sie ihr überreichten! Und diese Menschen sagten ihr, wie sehr sie sich freuen, dass „Venezia“ (die Eisdiele) jetzt endlich wieder geöffnet ist! Ich merkte, wie sehr sie das berührte habe und ich freute mich für sie mit.
Diese Geschichte war auch ein Beispiel dafür, wieviel sich verändern kann!
(Bei Goggle kann man unter Eisdiele / Venezia /Gifhorn sehen, wie eine Marching Band vor der Eisdiele aufspielt und die Menschen klatschen!)
Und diese Geschichte sagt mir auch: Donatella (der Name bedeutet übrigens: die von Gott geschenkte) hatte unseren Sohn in ihr Herz geschlossen und sich an ihm nicht gerächt für die blöden Sprüche ihrer Kindheit. Sie konnte unterscheiden: es gibt solche und solche. Und ich glaube, es täte uns allen gut, wenn wir unsere Erinnerungen mal durchkramen: welche Erfahrungen haben wir eigentlich in unserem Leben mit Menschen aus anderen Ländern, Religionen und Kulturen gemacht? Wenn wir uns fragen: lebte in diesen Begegnungen der Satz von Petrus nicht längst selbstverständlich mit, viel mehr, als wir denken?
Der Inhalt des Satzes von Petrus wurde über Jahrhunderte in vielen Teilen unserer Welt bis heute von Menschen mit Herz und Verstand gelebt: dort, wo Juden, Christen und Muslime sich kennen und vertrauensvoll miteinan-der leben. Viel mehr als es die heutigen religiösen und politischen Auseinandersetzungen vermuten lassen!
Das Merkwürdige: die größte Feindlichkeit gegenüber „Ausländern“ gibt es in Gegenden, wo die dort lebenden Menschen gar keine Erfahrungen mit „Ausländern“ haben. Politisch wird dann das Thema „Ausländer“, „Migration“ und „Flüchtlinge“ benutzt und vermischt, als ob die drei Begriffe dasselbe meinen.
Dabei geht unter und wird verdrängt: 30% der heutigen Bevölkerung in Deutschland sind selbst eingewandert oder haben mindestens ein Elternteil, das eingewandert ist. Wie bei Donatella Colletti, die 1967 mit ihren Eltern aus Italien nach Gifhorn kam, vor 58 Jahren als „Gastarbeiter“. Von den Flüchtlingen heute haben nach einem Jahr Aufenthalt in Deutschland nur 7 % eine Arbeitsstelle. Nach acht und mehr Jahren haben geflüchtete Männer mit 86% aber sogar eine höhere Erwerbstätigenquote als die durchschnittliche männliche Bevölkerung in Deutschland (bei Frauen liegt sie bei 33%). Donatella arbeitet ihr Leben ihr Leben lang, ihre Kinder auch.
Flucht – Asyl – Migration – Arbeitsmigration sind unterschiedliche Begriffe und wir müssen sie auseinanderhalten. Gerade weil derzeit 123 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind – so viele wie noch nie!
Deshalb verteidigen Kirche und Diakonie die RECHTE von Menschen auf dem Weg der Flucht – und setzen sich dafür ein, dass die Bedürfnisse von denen, die kommen und die Interessen von denen, die aufnehmen, zusammengebracht werden sollen.
„Mir aber hat Gott gezeigt, dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen darf“. Dieser Satz ist zentraler Teil des christlichen Glaubens und betrifft den Umgang mit Fremden, Schutzsuchenden, Menschen die Hilfe brauchen. Weltweit leben das Millionen von Christinnen und Christen!
Und die Frage in dem Text von Rose-Marie Hoffmann-Riem an die Mitglieder der CDU Parteienfamilie finde ich völlig berechtigt: wie verträgt es sich mit dem christlichen Menschenbild, wenn man Fremde dämonisiert und wo ist dieses Menschenbild bei der Asylpolitik geblieben?!?
Im Zentrum dieses Menschenbildes sagt Jesus Christus selbst: ihr habt mir Essen und Trinken gegeben, mich als Fremden aufgenommen, mich gekleidet – wenn ihr das irgendjemand getan habt. Hier müssen sich alle Christinnen und Christen fragen: ob sie nur die schönen individuellen Versprechungen des Glaubens annehmen, den Zuspruch – und dabei den Anspruch des Glaubens, die Forderungen und Zumutungen, überhören oder verdrängen.
Eine schöne Geschichte dazu zum Schluss:
Eine Freundin von uns besuchte uns in dieser Woche hier am Algarve. Sie hatte eine Studienreise durch Portugal gemacht und erzählte von einem Erlebnis in Lissabon. Eines Abends, als es endlich richtig warm war, strömten viele junge Leute auf einen Platz, wo man sich traf. Unsere Freundin ging auch zu diesem großen Treffpunktplatz, setzte sich auf eine Mauer in die Sonne, um auf den Tejo zu gucken. Da winkten einige ihr zu und zeigten mit den Fingern: nicht auf der Mauer sitzen, komm her und setz dich zu uns!
In dieser Geste steckt der Petrussatz!
Amen
Predigt Rogate – 25. Mai 2025 – Joh 16,23b-28.33
Capela de Nossa Senhora da Encarnação, Carvoeiro
Pfarrer Michael Manz, Mülheim an der Ruhr
Gnade sei mit euch von dem, der da war, der da ist und der da sicher wieder kommen wird. Amen.
Liebe Gemeinde!
Rogate!
So heißt dieser Sonntag.
Betet!
Wann haben Sie das letzte Mal gebetet?
…
Ich meine nicht, heute Morgen in dieser wunderschönen Kirche, sondern so, ganz für sich …
Und für was, für wen, worum haben Sie dann gebetet?
…
Nähmen wir doch jetzt einmal an, nicht die berühmte Fee käme zu uns, die, bei der man drei Wünsche frei hat, sondern Gott würde uns direkt oder indirekt durch einen seiner Boten ansprechen und wir würden hören:
„Du darfst dir drei Gebetswünsche aussuchen und benennen, die dir erfüllt werden.“
Was würden Sie da sagen?
…
Gar nicht so leicht, aber Beten fällt vielen eh echt schwer.
Dabei sind sich viele Menschen oft in dem Moment des Betens gar nicht bewusst, dass sie gerade beten, weil sie denken, dass ein Gebet eine feste Struktur und formelhafte Wendungen besitzen müsste.
Es gibt ja Gebete, die gehören so selbstverständlich zu unserem Glauben dazu, sind solche „Klassiker“, dass man sie sofort als ein Gebet erkennt: das Glaubensbekenntnis, das Vater Unser …
Dann gibt es Gebete, also Worte, in denen Gott angesprochen wird, die mit einer Art „Gebetsformel“ eingeleitet werden: „Wir beten“ oder „lasst uns beten“.
Dadurch wird noch einmal eine besondere Aufmerksamkeit erzeugt bei vielen Menschen; manch einer nimmt dann in der Kirchenbank noch einmal eine andere Körperhaltung ein.
Gehört hatte ich das Lied, den „Song“, schon oft unterwegs im Autoradio, so wie man Musik eben als „Hintergrundgeräusch“ wahrnimmt, wenn man gedanklich schon beim nächsten Termin ist und sich fragt, ob man wegen der ganzen Baustellen und roten Ampeln überhaupt noch einmal ankommt.
Aber vor ein paar Wochen wurde ich aufmerksam, hörte genauer hin, als der Radiomoderator eines öffentlich-rechtlichen Senders, WDR 2, das nachfolgende Lied mit ungefähr diesen Worten ansagte:
„Zählt gleich mal ruhig nach, aber in der Tat wird in dem Song mit seiner Länge von 3 Minuten und 51 Sekunden vierundvierzigmal das Wort „beten“ verwendet.“
Ich hatte den Anfang seiner Moderation verpasst, fragte mich, was das für ein Lied sein könnte und dann fing es an:
„We pray“ von der britischen Pop-Rock-Band „Coldplay“.
Darin fordert die Band, die durch einige andere Sänger und Sängerinnen ergänzt ist für diesen Song, uns auf: „and so we pray“ – „und so beten wir“.
Das kommt uns bekannt vor, oder?
Der Song ist eine nicht strukturierte Sammlung von Gebetsanliegen, die hier besungen wird.
Da haben die ganz großen Bitten nach Vergebung und Schutz und Kraft zum Durchhalten genauso ihren Platz wie die scheinbar banale, augenzwinkernde Bitte darum, dass es immer genügend Schallplatten zum Abspielen geben möge.
Die Sängerinnen und Sänger bringen ihre Sehnsucht nach Frieden und Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen zum Ausdruck und die Hoffnung, sich selbst ganz persönlich als einen schönen und wertvollen Menschen annehmen zu können.
Welcher Religion die einzelnen Akteure dieses Liedes angehören, ist nicht bekannt, aber sie eint das gemeinsame Vertrauen, dass sich Beten lohnt.
Inzwischen gibt es auch eine Version des Liedes mit quasi „Leerzeilen“ oder „Leerstrophen“, damit jede und jeder seine eigenen Gebete an diesen Stellen einsingen, „einbeten“ kann.
Wenn man dem Lied also Glauben schenkt, dann müsste es doch ganz einfach sein mit dem Beten anzufangen.
Oder gehören Sie zu denen, die meinen, Beten ist was für Profis, für Gottes Bodenpersonal: „Die haben das studiert, die machen das schon!“?
Oder glauben Sie gar, dass Sie gar nicht bzw. gar nicht mehr beten können, dass Sie es verlernt haben, dass das Leben mit all seinen Tiefen Ihnen das verleidet hat, weil Gott wohl absolut taub sein muss, weil er, so laut Sie auch zu ihm gerufen haben in Ihrer Not und Verzweiflung, wohl nichts davon gehört hat, geschweige denn sich darum gekümmert hätte?
Trösten Sie sich:
Wenn nur einer dieser Gedanken auf Sie zutrifft, dann sind Sie damit nicht alleine.
Denn Gottes Bodenpersonal kann durchaus auch verstummen, verzweifelt nach Worten suchen oder allenfalls ein unhörbares „Himmel hilf!“ oder „Warum nur, Gott?“ in den Himmel schreien.
Das gilt für manche vergleichsweise alltäglichen Erlebnisse in der Seelsorge allgemein, aber noch verstärkter dann, wenn man z.B. in der Notfallseelsorge, im Krankenhaus oder im Hospiz in dramatische Situationen hineingeworfen wird, um Menschen beizustehen, für die mehr als eine Welt zusammenbricht, in dem, was sie gerade erleben, erleiden und durchstehen müssen.
Da helfen keine wohlfeilen „frommen“ Worthülsen, da geht es erst einmal darum, das schier Unvorstellbare auszuhalten, einfach da zu sein, wie man es in der Ausbildung für Seelsorge in Extremsituationen lernt.
Da kann Schweigen schon Gebet genug sein und mehr sagen als 1000 Worte.
Ein „Ich bete für Sie“ hat dann eine ganz andere, tiefere Bedeutung als es oftmals früher der Fall war, als ein Mann Gottes das sagte, um damit eigentlich zum Ausdruck zu bringen, dass dieser Mensch, für den dieser Kleriker da betet ein verlorenes Schaf ist, ein armer Sünder, einer, der besonderer Führung und mitunter auch Strafe Gottes bedarf.
Ein „Ich bete für Sie“, das den Menschen so sieht, wie es ihm geht, in seiner Not, in seiner Verzweiflung, in dem, was ihm gerade den Boden unter den Füßen wegreißt, ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Für-Bitte.
Manche Menschen sind schon etwas irritiert, wenn ich Ihnen sage, dass ich sie wie meine Familie morgens und abends in mein Gebet aufnehme, an sie denke, für sie die Hände falte.
Denn eigentlich ist Beten ja etwas sehr Intimes; man macht es vielleicht, aber man spricht auf keinen Fall darüber: „Was sollen denn die anderen von mir denken?!“
Tja, was denken die wohl?
Beten „tut“ man doch erst als allerletzte Möglichkeit, wenn nix anderes geholfen hat.
„Not lehrt beten.“
So sagt es das Sprichwort.
Trösten Sie sich.
Denn so ging es schon dem ersten Bodenpersonal Gottes, als es noch keinerlei Schimmer davon hatte, dass sie zu einem solchen würden.
Zu seinen Freunden und Freundinnen geht Jesus als Tröster, lehrt sie das Beten für die Zeit, in der die Not unvorstellbar groß sein wird.
Wir haben es schon in der Lesung gerade gehört:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. 24Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei.“
Die Verse des heutigen Predigttextes aus dem Johannesevangelium sind nur ein Ausschnitt aus etwas sehr Komplexem: den sog. Abschiedsreden Jesu.
Und das, was wir heute gehört haben, gehört schon fast zur Zielgeraden seiner Ausführungen.
Beginnend mit der Fußwaschung versucht Jesus seine Freunde und Freundinnen mit immer neuen Bildern und Worten vorzubereiten auf das, was kommen wird, was ihm ganz individuell widerfahren wird und was dann unmittelbar Auswirkungen für sie alle haben wird.
Er wird nicht mehr bei ihnen sein.
Er leistet quasi vorweggenommene Trauerarbeit.
Und wenn nur eine oder einer von den Seinen ein wenig Empathie gehabt hat, dann wird klar geworden sein, was er da in seinen Worten des Trostes sagt, worauf das ganze hinausläuft.
Mit dem heutigen Worten bringt er eine weitere Facette des Trostes ins Spiel:
Betet!
Um Gottes und Eurer Willen betet!
Scheut euch nicht davor, Gott, meinen, Euren Vater um Hilfe zu bitten, um Beistand.
Redet zu ihm, wie ich es euch beigebracht habe: Vater unser im Himmel!
Sagt ihm alles, was Euch das Herz schwer macht, wenn ich zu ihm zurückkehren werde, damit Ihr Frieden findet.
„In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“
In dieser Welt, so Jesus, gibt es manches, was uns Angst macht, was das Herz eng macht - die Worte „Angst“ und „Enge“ hängen sprachlich ganz nah miteinander zusammen.
„Aber seid getrost!“
Ein altertümliches Wort dieses „getrost“.
Trost … von seinem Wortstamm rührt auch das Wort „Vertrauen“ her, und was es meint, bringt ein englisches Wort noch deutlicher zum Ausdruck: „tree“ – Baum.
Ein im Boden festverwurzelter Baum ist ein Symbol von Stärke und Standfestigkeit.
Ein Kapitel zuvor sprach Jesus von sich als dem Weinstock und wer in ihm bleibe, der bringe viel Frucht.
Ja, das klingt alles sehr gut, mag mancher sagen. Aber hat Jesus nicht auch am eigenen Leib, an eigener Seele zu spüren bekommen, dass diese Welt nicht so ganz einfach zu überwinden ist?
Man denke an sein Stoßgebet im Garten Gethsemane, dass dieser Kelch an ihm vorüber gehen möge und an den Schrei am Kreuz, warum er ihn verlassen habe.
Voll und ganz richtig, aber er fand dann doch die Kraft, mit anderen Gebetsworten den Weg anzunehmen, den er begonnen hatte, um als Erster die Welt des endgültigen Todes für alle Zeiten zu überwinden.
Wir sind zwar Kinder Gottes, aber nicht Jesus selbst, nicht der Sohn oder die Tochter Gottes!
Sollte Gott uns es deshalb wirklich verübeln, dass wir nicht mit tiefster Überzeugung immer und zu allen Zeiten alles Leid annehmen, hinnehmen und dass unser Mund scheinbar zu keinem Gebet mehr in der Lage ist und wir verstummen?
Unser Herz spricht Bände, auch dann.
Und Beten kann man genauso wenig verlernen wie das Fahrradfahren.
Vertraut!
Seid getrost!
„And so we pray!“
Vielleicht spätestens, wenn im Radio das nächste Mal „We pray“ gespielt wird?
Mit einem eigenen Gebetswunsch?
Einer eigenen Für-Bitte?
Übrigens hat mein Morgen- und Abendgebet ab sofort eine mehr 😊…
Für diese Gemeinde.
So we pray.
Amen.
Und der Friede dessen, der unser aller Frieden sein will, bewahre unsere oft engen Herzen und schenke ihnen Weite und Trost. Amen.
DEKA – Deutschsprachige evangelisch-lutherische Kirchengemeinde im Algarve. E-Mail:
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Wir wünschen allen ein frohes, gutes neues Jahr 2025
Jareslosung 2025 1.Thessalonicher 5,21
Prüfet alles und behaltet das Gute!
πάντα δὲ δοκιμάζετε, τὸ καλὸν κατέχετε
julgai todas as coisas, retende o que é bom
Diese Worte aus dem ersten Thessalonicherbrief begleiten uns als Jahreslosung durch das Jahr 2025. Prüfet alles. Nichts müssen wir hinnehmen, verlangt wird kein Gehorsam und keine unterwürfige Folgsamkeit. Alles darf auf Herz und Nieren geprüft werfen, jeder Stein darf umgedreht werden. Das ist nicht nur ausdrücklich erlaubt, sondern wir werden dazu sogar ermutigt!
Prüfet alles und behaltet das Gute! Das verlangt Fokussierung; denn es ist nicht gleich-gültig, wie wir uns entscheiden und handeln. Es gilt zu prüfen, zu untersuchen, zu analysieren. Was war gut, was ist gelungen? Worauf können wir aufbauen? Was war hinderlich? Was hat geschadet, was dem Wohl anderer gedient? Eine solche Prüfung braucht Zeit, denn nach Möglichkeit soll niemandem unrecht geschehen. Angesichts der medial sich ständig beschleunigenden Welt bleibt zu erinnern: Schnelligkeit ist kein Wert an sich.
Prüfet alles und behaltet das Gute! Als Paulus in seinem ersten Brief an die Gemeinde diesen Satz schreibt, gibt es noch kein Neues Testament, keine Evangelien, keinerlei kirchliche Strukturen. Paulus ist auf einer seiner beschwerlichen Missionsreisen im östlichen Mittelmeerraum unterwegs. Er will die Menschen – Heiden wie Juden - von Christus überzeugen. Darum gründet er Gemeinden und besucht die Menschen. Häufig trifft er auf Fragen und Probleme, die den neuen Glauben betreffen: Wie lange müssen wir noch auf die Wiederkunft Christi warten? Was ist mit denen, die schon vor der Wiederkunft gestorben sind? Wer hat in der Gemeinde das Sagen? Gelten die alten Speisegebote noch? Auch in der Gemeinde in Thessaloniki, einer großen Hafenstadt mit Menschen “aus aller Herren Länder” gibt es Fragen. Paulus weiß: Wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft mit unterschiedlichen Sprachen, Lebensgewohnheiten und Religionen beieinander leben, ergeben sich Spannungen beinahe automatisch. Da braucht es Toleranz und Aufgeschlossenheit, Interesse aneinander, guten Willen und Geduld. Man muss sich gegenseitig kennenlernen und miteinander sprechen, einander befragen. Paulus, der ehemalige Christenverfolger und nun Anhänger Jesu Christi, hat am eigenen Leib erfahren,
Dass Menschen gut daran tun, Neuem, Fremdem mit Offenheit zu begegnen. Denn auch andere Meinungen als die eigene, auch andere Einstellungen und Traditionen können ihren Wert haben und berechtigt sein. Nicht alles, wovon man selbst überzeugt ist, was man denkt oder tut, ist gut oder richtig oder taugt gar als Maßstab für andere. Paulus ist davon überzeugt, dass es richtig und wichtig ist, zunächst zu sehen, zu hören und wahrzunehmen; die Vielfalt zu erkennen und anzuerkennen. Erst im zweiten Schritt gilt es zu überlegen, an welchen eigenen Überzeugungen man festhalten will, und was von anderen man sich zu eigen machen will. Die Jahreslosung weitet unseren Blick und macht Mut: Die Welt ist vielfältig, und Vielfalt ist Reichtum. Wer sich mit dieser Vielfalt beschäftigt und wohlwollend prüft, was ihm begegnet, macht sich ein Bild von dem, was und wie andere glauben, leben und lieben. Andere(s) dabei gelten zu lassen zeugt von eigener Selbsterkenntnis und ist der Schlüssel zu einem guten Leben - für sich, für andere und für die Gemeinschaft.
Anne Peters-Rahn, Pfarrerin i.R.
Pfarramt, Urb Sesmarias, Lote 84, 8400-565 Carvoeiro Mob 960244439 Mail: